Lesson 7, Topic 2
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Rangdifferenzierung und Rollen nach Raoul Schindler

Der Psychoanalytiker Raoul Schindler stellt ein Positionsmodell vor, das auf Rangdynamik basiert und die Verwendung von griechischen Buchstaben für die Positionsbezeichnung einschließt. Dieses Modell wurde durch die Hackordnung unter Hühnern inspiriert, wie sie bereits 1922 vom dänischen Tier-Psychologen Schjelderup-Ebbe beschrieben wurde.


Raoul Schindler (geboren am 11. März 1923 in Wien; gestorben am 15. Mai 2014) war ein österreichischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Psychiater mit Schwerpunkten in Familientherapie, Gruppentherapie und Psychotherapie von Psychotikern. Sein Interaktions-Grundmodell, das als Rangdynamisches Positionsmodell (1957) bekannt ist, geht von Beobachtungen im Hühnerhof aus und postuliert eine Sozialordnung in tierischen und menschlichen Gemeinschaften, die durch Rangkämpfe etabliert wird. Einmal etabliert, ermöglicht diese Ordnung eine Periode der relativen Ruhe und Stabilität.


Alpha

In diesem Modell steht an der Spitze das sogenannte Alpha-Tier (Alpha-Position), gefolgt vom Beta-Tier, während das Omega-Tier an letzter Stelle und entsprechend unterprivilegiert und frustriert ist. Die Masse der Mitglieder sind die Gamma-Tiere. Schindler erweiterte dieses eindimensionale Rangordnungsdynamikmodell, indem er die Komplexität der Gruppenprozesse nachwies. Gruppen existieren nicht isoliert, genauso wenig wie Rollen. Sie sind Teil eines größeren Ganzen und entwickeln Vorstellungen über ihren Kontext und oft auch über die Existenz und Absichten eines sogenannten Gegenübers.


In der Alpha-Position hat ein Individuum eine doppelte Aufgabe. Einerseits repräsentiert es die Gruppe nach außen gegenüber dem Gegner oder der Aufgabe "G". Es wird erwartet, dass es die Gruppe kompetent, effizient und machtvoll vertritt. Erfolgt dies, reduziert es das Bedrohungsgefühl der Gammas. Andererseits hat es gegenüber den Gammas die Führungsfunktion, kontrolliert ihre Leistungen und Beziehungen.


Es gibt verschiedene Varianten der Alpharolle, wie das narzisstische Alpha ("ich bin der gesalbte des Herrn"), das empathische Alpha ("ich liebe euch alle") und das heroische Alpha ("mir nach, Weicheier macht Platz"). Personen, die sich längere Zeit in der Alpha-Position behaupten, haben oft alle drei Äußerungsformen zur Verfügung und erkennen, in welchen Situationen die Gruppe welche Äußerungsform benötigt.


Beta

Eine spezielle Position nimmt Beta ein. Beta fungiert als Berater oder Experte und steht Alpha besonders nahe. Das verleiht Beta Privilegien, die von Gamma toleriert werden, solange die Beiträge und Leistungen von Beta im Interesse der Gruppe liegen und den Gruppenaufgaben dienen (ein Leistungsvorteil für Alpha oder die gesamte Gruppe durch qualifizierte Betas).

Die enge Bindung zu Alpha erfordert von Beta eine ausgeprägte Loyalität, ohne die es für Alpha gefährlich wäre. Die Nähe und Loyalität verbinden Beta besonders stark mit dem Schicksal von Alpha. Wenn Alpha geht, werden oft auch die Betas ausgetauscht. Andererseits kann ein bedrohtes Alpha versuchen, durch den Austausch von Beta die Führung zu behalten (eine Art von Regierungsumbildung). In Krisen oder aus Krisensituationen heraus kann leicht die Idee entstehen, Beta zum Alpha zu machen. Das Verhältnis von Alpha zu Beta bleibt oft untergründig ambivalent, da Beta potenziell eine Alternative zu Alpha darstellt.

In Wirklichkeit ist ein echtes Beta jedoch aufgrund seiner Motivation und Fähigkeiten kein effizientes Alpha. Es bevorzugt es, einflussreicher, privilegierter Berater oder Experte zu sein, anstatt Führungsverantwortung zu übernehmen.


Gamma

Gammas tragen faktisch die Hauptlast der Gruppenleistung durch ihre Arbeit oder sonstigen Beiträge. Zudem konkurrieren die Gammas tendenziell untereinander um Prestige, Formen der Arbeitserleichterung oder die Gunst von Alpha. Zwei für betriebliche Arbeitsgruppen relevante Aspekte sind dabei von Bedeutung:

Gamma hat keinen Führungsanspruch mehr. Es ist mit der herrschenden gruppeninternen Sozialordnung zufrieden. Wäre es nicht zufrieden, würde es kämpfen (die Hackordnung müsste neu etabliert werden) oder die Gruppe verlassen.
Gamma profitiert von der Alpha-Position auf verschiedene Weise, solange es sich mit Alpha identifizieren kann. Das bedeutet, dass Gammas zur Kooperation motiviert sind, in dem AusmaĂź, in dem Alpha durch sein Verhalten die Ă„ngste der Gammas beruhigen kann, ihre BedĂĽrfnisse (z. B. nach Orientierung, Gerechtigkeit usw.) befriedigt und das AusmaĂź an Frustration kontrolliert.

Gammas identifizieren sich mit Alpha und erleben die Erfolge von Alpha als ihre eigenen Erfolge oder die der eigenen Gruppe. Aggressionen der Gammas finden Ventile im gegenseitigen Rivalisieren, in Projektionen auf Gegner und vor allem im Verhalten gegenĂĽber Omega.


Omega


Omega trägt einen Teil der Frustrationen der Gruppe, insbesondere der Gammas, wobei dies durch die Vorstellung erleichtert wird, dass Omega als Repräsentant des "Gegners" in der Gruppe agiert. Einerseits behandelt Gamma Omega wie es gerne mit einem Gegner umgehen würde, und andererseits handelt es gegenüber Omega so, wie Alpha es gegenüber Gamma tut. Die Position oder Situation von Omega in einer Gruppe hängt also wesentlich ab von:


  • dem FĂĽhrungsstil von Alpha im Allgemeinen und gegenĂĽber den Gammas,
  • der tatsächlichen oder angenommenen Bedrohung durch den Gegner, also der Bedrohung durch die AuĂźenwelt.


Je nach Beschaffenheit dieser Einflussfaktoren kann die Omega-Position durchaus erträglich sein. Die relative Randständigkeit von Omega erlaubt eine gewisse "Narrenfreiheit". Omega kann Meinungen vertreten oder Handlungen tätigen, die sich nur ein Omega erlauben kann.

Eine große "Chance", die Omega-Position einzunehmen, haben neue und junge oder andersdenkende Gruppenmitglieder, Angehörige von Minderheiten, Stigmatisierte, aber auch sogenannte Minderleister - Gruppenmitglieder mit besonderen Merkmalen also.

Wird die Situation für Omega unerträglich, verlässt es die Gruppe oder versucht, die Hackordnung zu verändern, sei es durch Aufstieg oder Umsturz. Somit kann Omega durchaus ein latentes bis aktives Gegen-Alpha sein. Alpha braucht Omega als Ventil, hat aber in Omega sein eigenes, mögliches Schicksal vor Augen (denn Alpha kann in der Gruppe nur noch Omega werden). Omega erwartet von Alpha "Gerechtigkeit", also einen minimalen Schutz vor den Gammas; gleichzeitig wäre die Situation von Omega schlagartig verändert, wenn es zum Alpha würde.

Die drei Typen von Omega sind:


  • NachzĂĽgler (wandert am langsamsten mit, wird am schnellsten mĂĽde, möchte aber dabei sein),
  • Distanzierter (steht dem Vorhaben kritisch gegenĂĽber, hat starke Bedenken, denkt an Ausstieg),
  • Rebell (wendet sich offen gegen Alpha).


Im Umgang einer Gruppe mit ihren Omegas gibt es ebenfalls unterschiedliche "Typen":


  • Hofnarr (darf dem Herrscher sagen, was kein anderer sagen darf; unterhält die Gruppe, hat durchaus auch Prestige),
  • PrĂĽgelknabe (bekam die Strafe, die der FĂĽrstensohn nicht bekommen durfte, kam dafĂĽr in den Genuss höfischer Erziehung; darf am Hof bleiben, hat aber kein Prestige),
  • SĂĽndenbock (die SĂĽnden der Gruppe wurden auf seinen RĂĽcken gebunden, und er wurde in die WĂĽste gejagt; wird aus der Gruppe ausgeschlossen).


Gruppen, die keine Omegas zulassen, nennt Raoul Schindler "Lemminge" - es fehlt die Repräsentation des Gegners für den Erfolg der Gruppe. Solche Gruppen starten z.B. immer wieder Projekte, die im Sande verlaufen, woraufhin sie ein neues beginnen.

Das psychodynamische Grundmodell von Schindler ermöglicht es, nicht nur sachliche und kognitive, sondern vor allem affektive, emotionale und teilweise verborgene Zusammenhänge zu erkennen. Dadurch kann das Gruppengeschehen aus einem tieferen Verständnis der Rangdynamik verstanden und gegebenenfalls optimiert werden.

Zusammenfassung:

Raoul Schindler präsentiert ein rangdynamisches Positionsmodell basierend auf der Hierarchie im Hühnerhof. Alpha-Tiere stehen an der Spitze, gefolgt von Beta-Tieren, während Gammas die Hauptlast der Gruppenleistung tragen. Omega-Tiere sind unterprivilegiert und repräsentieren den "Gegner" innerhalb der Gruppe. Schindler erweitert das Modell um verschiedene Alpha-Typen und betont die Bedeutung der emotionalen Dynamik in Gruppen, um ein tieferes Verständnis für die Rangdynamik zu fördern und das Gruppengeschehen zu optimieren.