4.2 Das Himmelreich / Das Reich Gottes

Das Himmelreich ist vermutlich das wichtigste Stichwort, wenn es darum geht, die Lehre Jesu zu verstehen. Sowohl die Verkündigung Johannes des Täufers als auch die von Jesus wird von den Synoptikern in den Worten: „Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahegekommen“ zusammengefasst (Mt 3,2; Mt 4,17; vergl. Mk 1,14-15; Lk 4,43). Wörtlich wird hier vom Königreich der Himmel (βασιλεία τῶν οὐρανῶν in Matthäus) oder vom Königreich Gottes (βασιλεία τοῦ θεοῦ in Lukas und Markus) gesprochen. Hinter dieser Unterscheidung liegt die jüdische Sitte, den Namen Gottes nicht auszusprechen, auf die Matthäus Rücksicht nimmt. Die Befürchtung, den Namen Gottes umsonst auszusprechen und so gegen eines der zehn Gebote zu verstoßen hat dazu geführt, dass gleich komplett darauf verzichtet wurde, den Namen Gottes auszusprechen. Das Himmelreich in Matthäus und das Reich Gottes in den anderen Evangelien bezeichnen aber dasselbe. 

Dieses Phänomen, bei dem die Gesetze strenger angewandt werden, als sie eigentlich formuliert sind, ist ein typisches im Judentum dieser Zeit. Es wurde ein so genannter Zaun um die Torah gebildet. Es handelt sich um Traditionen, die strenger waren als das eigentliche Gesetz. Die Hoffnung dabei ist, dass man, wenn man gegen die Traditionen verstößt immer noch nicht das Gesetz gebrochen hat. Auf diese Art und Weise haben die Juden versucht, sicherzustellen, dass sich alle an das Gesetz halten. Viele der Streitgespräche zwischen Jesus und den Schriftgelehrten und Pharisäern haben sich genau um diese Traditionen und ihre Gültigkeit gedreht.

Beim Versuch, den Begriff vom Reich Gottes besser zu verstehen ist es zunächst hilfreich, sich über das Wort Königreich Gedanken zu machen. Im damaligen Verständnis handelt es sich bei einem Königreich nicht um eine Nationale oder Geographische Einheit, die von Generation zu Generation von König zu König weitergegeben wird. Sondern ein Königreich bezeichnet die Herrschaft eines Königs.

Unser Verständnis, geprägt durch die europäische Geschichte redet beispielsweise von einem Königreich Frankreich, dass von Ludwig XIV nach seinem Tod an Ludwig XV weitergegeben wurde. In der Bibel wird über ein Königreich anders gesprochen. Hier beginnt das Königreich Davids dagegen mit der Krönung Davids zum König und endet mit seinem Tod. Mit der Krönung seines Sohnes Salomo beginnt das Königreich Salomos usw. Man könnte also anstelle von einem Königreich auch von einer Königsherrschaft sprechen. Johannes und Jesus verkündigen also, dass die Königsherrschaft Gottes nahegekommen ist.

Dieser Gedanke ist wiederrum verbunden mit der Hoffnung Israels, die wir bereits zuvor angesprochen haben. Diese Hoffnung schließt ein, dass Gott, der sich von dem Volk abgewendet hat, sich dem Volk wieder zuwendet und über das Volk regiert. Der Gedanke von Gott als König ist aus dem Alten Testament bereits bekannt. (Siehe z.B. 1. Sam 8,7) Verbunden mit dieser Hoffnung war zumindest manchmal auch die, dass ein von Gott zum König gesalbter Davidssohn (Messias) König über die Juden werden würde. Diese Hoffnung war so zentral, dass eines der Kredos der jüdischen Widerstandskämpfer war: „Kein König außer Gott“.

Die Erwartung der Juden war auch, dass dieses neue Königreich Gottes nicht nur die Unabhängigkeit der Juden von den Heiden bewirken würde, sondern dass dieses Königreich alle heidnischen Königreiche zerstören und zur Großmacht aufsteigen würde (vergl. Daniel 2). Wenn man das bedenkt, ist es kein Wunder, dass viele Juden damals von Jesus verwirrt waren. Er war definitiv nicht der Messias, den sie sich vorgestellt hatten.

Das Reich Gottes ist eine Schlüsselkategorie, wenn es darum geht, das Leben Jesu zu verstehen. Protestantische Theologie hat sich lange Zeit sehr intensiv mit dem Tod Jesu auseinandergesetzt. Die Frage warum Jesus gestorben ist, hat einen so großen Raum eingenommen, dass manchmal der Eindruck entstehen konnte, dass es nicht so wichtig war, warum Jesus gelebt hat. Die Antwort, die sich anbietet, ist folgende: In diesen drei Jahren hat Jesus demonstriert, wie es aussieht, unter der Herrschaft Gottes, also im Reich Gottes zu leben (vergl. Mt 11,3-5; Mt 12,28). 

Wichtig ist auch noch, zu betonen, dass es sich dabei nicht um eine reine Jenseitshoffnung handelt. Die Juden in der damaligen Zeit haben das Reich Gottes nicht im Leben nach dem Tod erwartet, sondern im Diesseits, auf dieser Erde. Auch die Auferstehung wurde nicht als eine Existenz nach dem Tod, irgendwo anders, verstanden. Die Vorstellung war eher eine Rückkehr in einem neuen physischen Körper auf dieser Erde.