Die historische Kritik
Bevor wir uns mit den Hintergründen der Evangelien auseinandersetzen ist es wichtig, ein paar Worte zum Vorgehen in diesem Kurs zu sagen. Es ist in der theologischen Forschung nicht immer offensichtlich, wie man sich den Evangelien nähern soll. Die Frage nach dem historischen Jesus wird unter Theologen seit langem diskutiert. Wer war Jesus wirklich? Und was haben die Evangelisten dann nachher aus ihm gemacht? Was waren seine Ziele? Warum hat er gedient, gelehrt und gelebt? Und warum ist er gestorben? Was hat er geglaubt und was hat er von sich selbst gedacht?
Die Berichte aus den Evangelien sind aus unterschiedlichen Gründen verdächtig geworden. Zum einen ist die Aufklärung und mit ihr das Aufkommen der historisch-kritischen Methode (HKM) zu nennen. Die Aufklärung hat die menschliche Vernunft zum Maßstab der Erkenntnis und der Wahrheit gemacht. Die HKM verlangte dementsprechend, dass die Berichte aus den Evangelien anhand von Vernunftkriterien beurteilt wurden: Was nicht der Vernunft entspricht, kann auch nicht geschehen sein. Die Aufgabe des Auslegers wird dann, zu erklären, was wirklich vorgefallen ist und wie der Text, der heute vorliegt, daraus entstanden ist. Unter anderem wurde nach einer Analogie zum Geschehen heute verlangt. Die Logik funktioniert wie folgt: Es gibt heute keine Auferstehungen. Deswegen ist davon auszugehen, dass es auch damals keine gab. Dementsprechend stellt sich die Frage, wie die Auferstehungstexte zustande gekommen sind. Auf Grundlage dieser Methode wurden Phänomene, die wir heute als übernatürlich betrachten würden, ausgeschlossen. Es kann keine Wunder gegeben haben, auch keine Prophetie oder Engel. Die Idee, dass Jesus auferstanden oder der Sohn Gottes ist, wurden auch ausgeschlossen. Die Skepsis gegenüber dem Text ist der Ausgangspunkt dieser Methode.
Darüber hinaus haben Spannungen und Widersprüche zwischen den einzelnen Evangelien dafür gesorgt, dass ihren Berichten misstraut wird. Mit diesem Thema werden wir uns im Lauf des Kurses ausführlich auseinandersetzen, wenn es um den synoptischen Vergleich geht.
Da die klassischen Quellen also nicht mehr als glaubwürdig angesehen wurden, entstand ein Vakuum. Grade in der Frühzeit der kritischen Theologie wollte man Jesus und das Christentum nicht einfach fallen lassen, so dass sich alternative Theorien entwickelten.
Auswertung
Wie sind diese Entwürfe zu beurteilen? Zur historisch kritischen Methode ist zunächst zu sagen, dass ihre Urteile keine Frage von Wissenschaftlichkeit oder Vernunft sind, sondern der Weltanschauung. Geht man von einem naturalistischen Weltbild aus, dann ist es naheliegend, warum Wunder und Prophetien nicht in Frage kommen. Geht man aber von der Existenz Gottes aus, dann gibt es keinen guten Grund davon auszugehen, dass Wunder und Prophetien nicht stattfinden können. Diese Frage entzieht sich auch der wissenschaftlichen Untersuchung, da Wissenschaftlichkeit auf Beobachtungen, Experimenten und Nachprüfbarkeit beruht. Nur was wir ergreifen und erforschen können, kann wissenschaftlich beurteilt werden. Gott hat sich dieser Beurteilung bisher entzogen. Entweder weil er nicht existiert oder weil er sich dieser Beurteilung entziehen will.
Diese Problematik wird auch deutlich, wenn man sich das Analogieprinzip anschaut. Wenn wir davon ausgehen, dass alles, was damals passiert ist eine Analogie heute haben muss, dann gehen wir auch davon aus, dass einmalige Ereignisse unmöglich sind. Was sollen wir aber sagen, wenn ein Bericht behauptet, dass ein einmaliges Ereignis geschehen ist, wie z.B. bei der Jungfrauengeburt oder der Auferstehung? In diesem Fall müssen wir entweder sagen, dass kein Urteil möglich ist oder dass es nicht passiert sein kann – weil die Methode sagt, dass einmalige Ereignisse unmöglich sind.
Ich komme also zu dem Urteil, dass die HKM dem Text nicht gerecht wird. Indem sie versucht, ihn in ihr eigenes, naturalistisches Weltbild zu drängen, verzerrt sie notwendigerweise die Bedeutung des Textes. Die Skepsis als Ausgangspunkt des Bibelverständnisses muss zu Missverständnissen führen. Es bleibt die Frage, welche Alternative sich anbietet.
Vorgehen in diesem Kurs
Der Vorwurf, dass die Bibel in das Weltbild des Lesers gepresst wird lässt sich nicht nur gegen die HKM, sondern auch gegen viele konservativere Ausleger erheben. Auch hier werden die Evangelien allzu oft in den eigenen Glauben hereingepresst. Man tritt mit seiner theologischen Vorbildung an die Evangelien heran, ist vielleicht von Paulus, Luther, Karl Barth oder irgendjemandem geprägt und liest dann in den Text herein, was man zuvor mitgebracht hat. Auch das ist nicht hilfreich.
Worin liegt die Lösung für dieses Problem? Eine weltanschaulich neutrale Auslegung kann es nicht geben. Jeder von uns ist viel zu tief in die eigene Weltanschauung und den eigenen Traditionen verstrickt. Die Lösung zu dieser Frage liegt in dem, was bereits im Vorwort zur Exegese gesagt wurde. Es geht darum, die Aussageabsicht des Autors nachzuvollziehen. Entscheidend ist nicht, was ich für wahr oder für möglich halte, sondern was der Autor in seiner Weltanschauung sagen wollte.
Es geht also nicht darum, festzustellen, was geschehen oder nicht geschehen sein kann. Die Fragestellung ist: Was wollte der Autor durch diese Schrift sagen. Jeder Versuch, hinter den Text zurückzugehen bedeutet, dass wir uns in endlose Hypothesen verstricken (Siehe die Diskussion zur Quelle Q unten).
Hierin liegt auch der Grund dafür, dass wir uns so intensiv mit der Geschichte und der Kultur der damaligen Zeit auseinandersetzen müssen. Es geht nicht nur um ein wenig Hintergrundwissen, dass hier und da etwas beim Verständnis hilft, sondern es geht darum, dass wir uns ein Bild von der Weltanschauung der Menschen damals machen, um dann diese Geschichte durch die Augen der damaligen Zeit zu sehen. Diese Rekonstruktion der Weltanschauung ist wie eine Brille, die unsere Betrachtung von allem beeinflussen wird.
Ein Kritiker wird dagegen einwenden, dass eine solche Rekonstruktion der Weltanschauung niemals gelingen kann. Damit hat er recht. Selbst das beste Bild, dass wir uns von der Weltanschauung der Juden damals machen können, wird unvollständig und an manchen Punkten auch verkehrt sein. Es wird aber fast mit Sicherheit auch besser sein als jede Auslegung, die ohne diesen Prozess fortfährt. Eine weltanschaulich neutrale Auslegung ist ja, wie bereits gesagt wurde, unmöglich. Selbst eine mittelmäßige Rekonstruktion wird näher am Original sein als ein unreflektiertes Lesen aus unserer eigenen Weltanschauung heraus.
Es gilt also: Wenn wir davon ausgehen können, dass der Autor und seine Hörer an Wunder geglaubt haben, dann will er auch von Wundern erzählen. Hat er an Prophetie geglaubt? Dann geht es im Text auch um Prophetie. Dasselbe gilt für Engel und alles andere.
Ein Hinweis: Ich beschreibe hier das Vorgehen, dem ich in diesem Skript weitgehend gefolgt bin. Das bedeutet aber nicht, dass reformatorische, historisch-kritische oder andere Auslegungen nicht auch ihren Wert haben. Im Gegenteil, ich ermutige sehr, euch in diesem Kurs immer wieder mit unterschiedlichen Ansätzen auseinanderzusetzen. Zum Teil passiert das auch in diesem Skript. Es ist allerdings nicht möglich, es durchgehend zu machen, da die Diskussion den Umfang dieses Skriptes bei weitem sprengen würde.